Nachdem hier schon sehr viele gute Geschichten gepostet wurden und ich zuletzt mal meine Festplatte gesichtet habe, gibt es jetzt nun auch einmal etwas von mir zu lesen.
Viel Spaß!
Kommentare erbeten und erwünscht.
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Die Offenbarung
John betrachtete sich im Spiegel, als er zu mir sprach. „Weißt du, wenn es irgendeinen Menschen auf der Welt geben kann, auf den der Spruch ´Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden´ passt, dann ist es mein Vater. Wirklich, ich kenne sonst keinen, der dermaßen negativ auf sich und die übrige Welt um ihn herum schaut, wie er. Und ich denke, dass er mich hasst. Es ist nicht nur einfach ein Hass, weil ich sein Sohn bin und meine Mutter eine Hure ist, es ist viel mehr ein Hass auf mich als Mann. Auf meine Jugend. Auf meine Schulbildung. Im Prinzip alles, was meine Existenz ausmacht. Ich glaube, wenn er nicht so große Angst davor hätte, mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, würde er mich töten lassen.“ Er beendete seine Selbstreflexion, nachdem er sein Haar noch einmal durchgekämmt hatte und einen Blick auf die Uhr warf. „Es ist 6 Uhr. Lass uns gehen.“
Mich überraschte die plötzliche Offenherzigkeit, mit der John mit mir über seinen Vater sprach. Ich kannte die Claytons, also John, seinen Vater, die alte Haushälterin fremdländischer Herkunft und die Hündin Lucie, mittlerweile mehrere Jahre und hatte aber trotzdem nie näheren Einblick in die Umstände ihres Zusammenlebens bekommen. Ich wusste, beziehungsweise glaubte ich durch die Erzählungen der Menschen aus der Nachbarschaft zu wissen, dass seine Mutter durch einen Autounfall starb, als John fünf Jahre alt war. Ich wusste, beziehungsweise wurde mir als Kind von meiner Mutter erzählt, dass die Haushälterin so etwas wie die Großtante von John war und die Hündin mitgebracht hatte. Über seinen Vater wusste ich nichts, außer dass er früher einmal Busfahrer gewesen war, bis sich eine 14 jährige Drogenabhängige vor seinen Bus warf und er von diesem Erlebnis einen posttraumatischen Schock erlitt, welcher ihn arbeitsunfähig machte. Seitdem fristete er sein Dasein mit dem übermäßigen Konsum von Alkohol, billigem Kräuterschnaps, den er sich von einem afroamerikanischen Vietnamveteranen besorgte, und dem Misshandeln seines Sohnes. Natürlich sprach John niemals darüber, aber seine blauen Flecken, Narben und Verbrennungen zeichneten ein deutliches Bild.
Wir Kinder mochten beide nicht, weder den Vater, noch seinen Sohn. Den Vater, weil er, wenn er mal nicht betrunken war, Fallen für unsere Katzen baute und seine Opfer dann tagelang bei zum Trocknen an seinen Gartenzaun hing, nachdem diese qualvoll umgekommen waren. Und den Sohn, weil dieser eine große Hornbrille trug, die er von seinem Großvater, einem ehemaligen Psychologieprofessor, geerbt hatte und den ganzen Tag mit einer Taschenbibel in der Hand unterwegs war. Bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, las er in ihr und rezitierte leise mit bebenden Lippen Verse aus dem Alten oder Neuen Testament. Ich kann mich noch gut erinnern, wie er eines Nachmittags mit uns anderen Jungen, mehr verachtet, als geduldet, am Dorfteich saß und all unsere Demütigungen stillschweigend über sich ergehen ließ, bis er plötzlich aufsprang und uns voller Inbrunst folgende Worte entgegenschmetterte: „Vier Engel standen an den vier Ecken der Erde. Sie hielten die vier Winde der Erde fest, damit der Wind weder über das Land noch über das Meer wehte, noch gegen irgendeinen Baum. Dann sah ich von Osten her einen anderen Engel emporsteigen; er hatte das Siegel des lebendigen Gottes und rief den vier Engeln, denen die Macht gegeben war, das Land und dem Meer Schaden zuzufügen, mit lauter Stimme zu: ´Fügt dem Land, dem Meer und den Bäumen keinen Schaden zu, bis wir den Knechten unseres Gottes das Siegel auf die Stirn gedrückt haben.’“ Bei dem Wort „Stirn“ zog er das i dermaßen in die Länge, dass seine Stimme, die sonst schon sehr hoch und mädchenhaft klang, zu überkippen drohte. Die anderen Jungen wussten nicht, ob sie aufgrund dieser Darbietung lachen oder sich fürchten sollten, deshalb stießen sie ihn alle wie auf ein geheimes Kommando hin in den Teich. Mir aber lief aus einem unbestimmten Grund eine angstvolle Gänsehaut über den Rücken. Nicht wegen dem hasserfüllten Blick, der in seinen Augen blitzte, bevor er untertauchte, sondern weil diese Worte meine Mutter oft vor sich hersprach, wenn sie ängstlich oder traurig war.
Die nächsten Wochen war John nicht in der Schule. Es hieß, er habe eine Lungenentzündung und läge deshalb im Krankenhaus. Ich verlor ihn dann für einige Zeit aus den Augen, weil ich durch Entgleisungen meines doch recht gewalttätigen Charakters der Schule verwiesen wurde.
Ich traf ihn erst auf der Militärschule wieder. Mein Vater hatte es, eine Tatsache, die mir bis heute unerklärlich bleibt, trotz meiner schlechten Noten und meines zweifelhaften polizeilichen Führungszeugnisses geschafft, mich beim Militär verpflichten zu können. John hatte sich zwischenzeitlich stark verändert. Seine Brille war durch Kontaktlinsen ersetzt, sein Äußerstes war penibel gepflegt und sein Verhalten war durch und durch arrogant. Trotzdem begrüßte er mich wie einen alten, verloren geglaubten Freund und die nächsten Jahre waren wir unzertrennlich. Bis sich unsere Wege wieder trennten. Es war die Zeit der Entscheidungen. Bleibst du bis an dein Lebensende in der Stadt stecken, in der du als Kind deiner Mutter die Brustwarzen vor Hunger zerbissen hast und heiratest deine minderbemittelte Freundin von der High School, um mit ihr die Welt mit einer Flut unausstehlicher Kinder zu verseuchen, die sich später jeglichen Zwängen von Medien, Money und makaberen Horrorfilmen unterwerfen (was meine Entscheidung war, Gott vergib mir) ODER strebst du hinaus in die Welt, um dein Erfolg als Handlungsreisender zu machen (was Johns Entscheidung war)? Nun, jeder dachte, er hatte für sich das Richtige gefunden und lebte die nächsten Jahre so vor sich hin.
Ich schlug mich die erste Zeit mit Gelegenheitsjobs rum (unter anderem als Türsteher einer Schwulendiskothek), bis ich von einem ehemaligen Kameraden beim Militär einen todsicheren Tipp bekam. Er wusste, dass ich damals erstklassiger Schütze war und meinte, dass es für mich sicher keinen Unterschied machte, ob ich auf Menschen aus Pappe schoss (denn in einen Krieg waren wir nie verwickelt) oder ob ich auf Menschen aus Fleisch und Blut schoss und dafür Geld bekam. Nach einigem Zögern stimmte ich zu und wurde Auftragskiller.
Irgendwann kam John in unser Dorf zurück und der Kontakt flammte erst zögerlich von meiner Seite, da ich ihn grenzenlos beneidete, und dann immer stärker auf, da John mich und meine verkommene Frau an den schönen Seiten des Lebens teilhaben ließ.
Eines Abends, wir waren allein in seinem Haus und hörten eine historische Jazzaufnahme, sprach er mich ganz direkt auf mein Doppelleben an und eröffnete mir im folgendem Gespräch die Wahl zwischen zwei Optionen. Entweder ich würde eine Person seiner Wahl ohne Bezahlung töten oder er würde mich der Polizei ausliefern. Nach einem Grinsen seinerseits und einem wuterfüllten Brüllen meinerseits willigte ich in den Pakt ein.
Nun waren wir auf dem Weg zu meinem Auftrag, also auf dem Weg zu der Person, die ich umbringen sollte. Bis jetzt hatte er mir weder Adresse noch Namen meines Opfers verraten, noch den Grund, warum John den Tod dieses Menschen wollte. Wir gingen, nachdem wir sein Appartement verlassen hatten, über die Straße und durch den nahegelegenen Park. Mir schien, als ob er den Hochhauskomplex im Herzen der Stadt ansteuern würde, als er wieder zu Sprechen begann. „Du hast dich sicher gefragt, woher die ganzen Narben an meinem Körper stammen und ob es stimmt, dass meine Mutter bei einem Verkehrsunfall starb. Nun, ich wünschte, es wäre so, denn dann würde mein Körper heute wohl keinem Flickenteppich gleichen.“ Ich war überrascht. Ich hatte immer angenommen, wie auch der sämtliche Rest der Nachbarschaft, dass er immer von seinem Vater so übel zugerichtet worden war. Und jetzt erklärte er mir, dass seine angeblich tote Mutter dafür verantwortlich war? Ich war paralysiert. Er musste es aus den Augenwinkeln mitbekommen haben und ahnte wahrscheinlich meine Gedanken, als er fortfuhr: „Mein Vater ist ein hoffnungsloser besoffener Versager, der sein ganzes Leben verpfuscht hat. Den Unfall mit der Schlampe, die sich vor den Bus warf, hätte er verhindern können, wenn er nüchtern gewesen wäre. Er hatte nämlich zu dieser Zeit eine geraume Menge Alkohol im Blut. DESHALB verlor er seinen Job, nicht wegen irgendeinem Schock. Aber das verschweigt er immer. Ihm gefällt es besser, wenn er den Leuten seine Version der Geschichte in die desinteressierten Ohren heulen kann. Nun, dass alles lässt sich vielleicht alles noch ertragen, ich bin mir bewusst, dass es tausend solcher Väter gibt. Das Problem ist meine Mutter. Sie ist die widerlichste, scheinheiligste und grausamste Hure, der ich je begegnet bin, und glaub mir, ich habe auf meinen Reisen eine Menge Nutten kennengelernt. Seitdem mein Vater sie kennt, führt er ein Leben in sexueller und finanzieller Abhängigkeit von ihr. Sie ist seine Domina. Das mag nicht ungewöhnlich klingen in unserer heutigen Zeit (er grinste mich diabolisch an), doch ihre Praktiken waren von so unmenschlicher und abartiger Art, dass mir das kein Mensch je glauben würde. Der Punkt jedoch, warum ich sie so hasse, ist folgende Tatsache. Sie probierte ihre Foltermethoden zuerst an mir aus, bevor Vater sie genießen konnte (wieder ein diabolisches Grinsen). Und das machte ihn wütend. Weil er ALLEINE von ihr Schmerz empfangen wollte. Er war aber auch nicht fähig, sich gegen sie aufzulehnen. Anstatt sie einfach bei der Polizei anzuzeigen, worum ich ihn jeden Tag anflehte, ließ er sie gewähren, denn in seinem dumpfen Hirn ging folgender Gedanke umher: `Wenn ich sie anzeige, muss ich wieder selbst Hand anlegen und bekomme kein Geld mehr für meinen Alkohol.´ Du musst wissen, dass SIE IHM Geld gab, damit sie ihn foltern dürfte, nicht umgekehrt. Wie auch immer, ich möchte mich jetzt nicht in Einzelheiten verlieren. Fakt ist, dass sie ihre ´Übungen´ an mir immer mit einer zynischen Dreingabe garnierte: Sie zitierte Bibelverse aus der Offenbarung des Johannes und zwang mich irgendwann, diese auswendig zu lernen.
Ich weiß, dass du mir all das nicht glauben kannst, dass musst du auch gar nicht. Ich werde heute meine Rache bekommen.“ Während er redete hatten wir wirklich eines der Hochhäuser erreicht und waren auf seinem windigen Dach angekommen. Ich postierte mich nach seinen Anweisungen an einer Spitze, die zu dem Park zeigte, den wir gerade durchquert hatten. John holte tief Luft und flüsterte mir ins Ohr: „Ich habe Vater und seine dreckige Hure, diese Missgeburt der Hölle, heute in den Park bestellt. Du siehst sie, wenn du dein Zielfernrohr auf den Springbrunnen richtest.“ Ich schaute durch und sah Mister Clayton und den Rücken einer Frau. „Und wen soll ich nun umlegen?“, fragte ich ihn. „Ich will, dass du SIE tötest. Weil ich Rache an ihm will, nicht an ihr. Sie ist nur die Summe aller Abscheulichkeiten dieser Gesellschaft. Sie kann nichts dafür. Aber sie muss sterben. Weil die größte Strafe für meinen Vater ist nicht der Tod, auch wenn er ihn verdient hat, sondern dass sie ihn nicht mehr beherrschen kann. Das ist sein Waterloo.“
Während er die Melodie des gleichnamigen Schlagers pfiff, zielte ich auf den Rücken der Frau in Bauchhöhe und drückte ab. Geschockt bemerkte ich, dass die am Boden in einer Blutlache sterbende Person nicht nur Johns Mutter war, sondern auch meine. Ich blickte meinem Halbbruder mit tränenerfüllten Augen in sein grinsendes Gesicht. „Fügt dem Land, dem Meer und den Bäumen keinen Schaden zu, bis wir den Knechten unseres Gottes das Siegel auf die Stirn gedrückt haben.“, waren seine Worte, bevor er sich vom Dach des Hochhauses stürzte.