So, endlich geht es mal wieder weiter! ich hoffe, ihr seid alle noch dabei, nachdem es so lange nicht weiterging. Dafür gibt es diesmal eine doppelte Portion.
Hatte ich das tatsächlich gesehen? Ich spürte, dass mir ein wenig schwindlig wurde – bei Weitem nicht zum ersten Mal an diesem seltsamen Tag, wie ich mir dachte.
Rasch setzte ich meinen Abstieg fort und sah dabei konzentriert auf meine Füße, die mit leisem Absatzgeräusch von Treppenstufe zu Treppenstufe flogen. Spontan fiel mir ein, dass diese Angewohnheit – beim Herabsteigen einer Treppe auf die Füße zu sehen – aus meiner Kindheit stammte. Damals hatte ich mehrere derartiger Gewohnheiten gehabt, um in einer Stresssituation zur Ruhe zu kommen. Dazu hatte beispielsweise auch das abwechselnde Einknicken des rechten und linken Daumens gehört oder das langsame, dreimalige Ballen der Fäuste, wie mir gerade wieder einfiel. Plötzlich sah ich mich selbst im Alter von neun oder zehn Jahren vor meinem inneren Auge, in beängstigender Klarheit. Alleine, auf einem mit schummrigen Licht erleuchteten Flur stehend, dessen Wände ganz und gar von dunklem, polierten Holz ausgekleidet sind. Aber warum? Während ich die Treppe hinunterrannte, runzelte ich die Stirn. Ich-
Das Bild zerplatze mit einem Mal, wie eine Seifenblase, denn ich stolperte. Beinahe wäre ich gestürzt, doch meine Füße fanden auf rauem Betonboden halt. In Gedanken versunken war mir entgangen, dass ich das Ende der Treppe gerade erreicht hatte und so fast gestürzt wäre.
Mit klopfendem Herzen sah ich vom Boden auf. Hier war ich nun – im Untergeschoss des Möbelhauses, auch genannt „Möbel-SB“ für „Möbelselbstbedienung“, denn viele der hier ausgestellten Möbel waren direkt als Bausatz, platzsparend in einem Karton verpackt, zum Mitnehmen bereitgestellt. In hohen Regalen türmten sich diese dunkelbraunen Kisten, deren kubische Sachlichkeit rein gar nichts mit den „frischen Wohnideen für jedermann“ gemein zu haben schien, die einem die Werbeprospekte versprachen. Für einen kurzen Moment fand ich die Szenerie ein wenig bizarr, denn mir war, als wäre jedes dieser Möbelstücke vor mir ein lebendiges Wesen, das um meine Aufmerksamkeit buhlte, und innbrünstig hoffte, endlich von diesem tristen Ort fortgetragen zu werden. Ich lachte leise, zum ersten Mal an diesem Tag, und dachte mir, dass ich diesen Wunsch – eventuell! – wohl nur dem gesuchten Couchtisch erfüllen können würde. Beim Klang meines Lachens lief mir unweigerlich ein Schauer über den Rücken. Ich hörte Schritte auf der Treppe hinter mir und drehte mich sogleich um. Niemand war dort. Was war nur los mit mir? Ich war zweifellos ein wenig verwirrt, was wohl daran lag, dass ich über die kleine, unscheinbare Treppe, die ich soeben hinuntergegangen war, in einen Bereich des Untergeschosses gelangt war, den ich vorher noch nie betreten hatte. Ich war mir sicher, zum ersten Mal hier unten zu sein, obwohl ich das Möbelhaus Gastmann schon so viele Jahre kannte und auf eine seltsame, subtile Art und Weise fand ich die vor mir liegende Szenerie sogar ein wenig beunruhigend – was natürlich vollkommen absurd war.
Nüchtern betrachtet gab es hier nichts Absonderliches zu sehen: Auf dem schmutzigen Betonboden, der mir so unerwartet Halt gegeben hatte, standen zahlreiche Möbelstücke, jedoch ohne erkennbares System. Viele von ihnen waren offenbar Ausstellungsstücke, denn an ihnen prangten noch Schilder, die in grellen, aber mittlerweile blass gewordenen Farben und fetter Schrift „SONDERANGEBOT!“, „25% reduziert!“ oder Ähnliches verkündeten. War ich womöglich in eine Lagerhalle gelangt? Die Größe des vor mir liegenden Bereiches konnte man durchaus als ein Indiz dafür ansehen – vor mir lag sicher eine halbe Sportplatzlänge kahler, grauer und teilweise von dicht an dicht stehenden Möbeln verdeckter Betonboden. Die Breite dieses Bereiches war deutlich kleiner als seine Länge; es konnten höchstens acht Meter sein. Die Decke jedoch befand sich in überaus großer Höhe: Die unzähligen Neonröhren, die von dort aus ihr kühles Licht verbreiteten, waren mindestens zehn Meter über mir. Auch der Boden sprach dafür, dass es sich nicht um eine normale Verkaufsfläche handelte, denn dort fand man für gewöhnlich ausschließlich Parkett und Teppichboden – keinesfalls rohen Beton. Und statt der mit Kunstdrucken übersäten Fassadenwänden waren es hier die bis unter die Decke reichenden, mit Kartons und Metallboxen gefüllten, türlosen Stahlschränke, die für die Abgrenzung des Areals sorgten. Trotz dessen beeindruckender Größe kam ich mir irgendwie eingeengt vor und so tat ich nur zögerliche Schritte auf die Inseln aus Möbeln und Gerümpel zu, die da vor mir aus einem See aus Beton ragten.
Durch Lücken zwischen den gestapelten Waren in den Schränken konnte ich sehen, dass die ein wenig an Hochhäuser erinnernden Stahlschränke vor einer in gleichem Maßen wie der Boden grauen Betonwand standen. War ich womöglich in eine Sackgasse geraten? Das wäre ärgerlich, denn sollte dies der Fall sein, würde ich den gesamten Weg über die eckige Wendeltreppe wieder zurückgehen müssen, wofür wahrscheinlich ohnehin keine Zeit mehr war. Ich warf ein Blick auf meine Uhr und musste mit Entsetzen feststellen, dass sie stehen geblieben war. Dies überraschte und verärgerte mich zugleich, denn es war eine teure, mechanische Uhr, eine IWC, die einiges an Geld gekostet hatte und sie war eine der wenigen Dinge, die mir wirkliche Freude bereiteten. Die Zeiger zeigten zwanzig vor Acht, woraus ich schloss, dass sie noch nicht lange stehen geblieben sein konnte. Wie es sich auch immer mit der Uhr verhielt war es zweifellos sicher, dass mir nur noch sehr wenig Zeit blieb, um das zu tun, wofür ich eigentlich hergekommen war. Ich überlegte, dass es womöglich das Beste sei, einfach umzudrehen und das Möbelhaus zu verlassen. Zu Hause wartete noch ein schönes Stück Arbeit auf mich, weswegen ich wahrlich Besseres zu tun hatte als ziel- und orientierungslos in einem Möbelhaus herumzuirren.
Gerade, als ich auf dem Absatz kehrt machen wollte, entdeckte ich an der sich von der Treppe aus gesehen links befindenden Wand eine kleine, unscheinbare Feuerschutztür, auf der das typische „Brandfluchtschild“ angebracht war: Ein weißes Männchen auf grünem Grund, das vor schmalen, weißen Flammen floh. Ich war erleichtert und zugleich sicher, dass ich durch diese Tür in den regulären Verkaufsbereich des Möbel-SB gelangen würde. Mein Weg zu der Tür führte mich durch die chaotischen Ansammlung aus alten Möbelstücken und Kisten, die ich mir im Vorbeigehen ein wenig näher ansah.
Besonders ins Auge stachen mir als „unfassbar günstig“ ausgewiesene Sonderangebote, die sich in den meisten Fällen als nutzlose Waren herausstellten, wie ockerfarbene Plastikmülleimer, hölzerne Kleiderständer im viktorianischen Stil oder geschmacklose Dekorationsfiguren. Derlei alter Krempel stapelte sich neben künstlichen Weihnachtsbäumen und übereinander geschichteten Lattenrosten – ich befand mich in einem regelrechten Dschungel aus augenscheinlich vergessenen Dingen, durch den ich mir den Weg zum Ausgang bahnen musste. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass über allem eine feine, pulvrige Staubschicht lag.
Mir wurde kalt.